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uf die Anordnung Heinrich
Himmlers (seit 1929 Reichs-
führer der SS und seit 1939
Reichskommissar für die Fes-
tigung des deutschen Volks-
tums) vom 2. Jänner 1940 wurde in
Südtirol ein Auslandskultureinsatz
zur „Aufnahme und Bearbeitung des
gesamten dinglichen und geistigen
Kulturgutes“ vorgesehen. Anschlie-
ßend kam im März desselben Jahres
Wolfram Sievers nach Südtirol, um
hier die Voraussetzungen für die
Arbeiten des Ahnenerbes zu sondie-
ren. Wolfram Sievers war zu diesem
Zeitpunkt SS-Obersturmbannführer
und wurde nun zum Reichsgeschäfts-
führer des SS-Ahnenerbes bestellt.
Den Grundgedanken dieser Initiative
bildete die „Festigung deutschen
Volkstums“, der auf einen Erlass Adolf
Hitlers vom 7. Oktober 1939 zurück-
ging.
Südtiroler Kulturkommission
Als Dienststelle des Ahnenerbes für
Südtirol wurde eine „Südtiroler Kul-
turkommission“ errichtet, die sich
im Bozner Hotel Bristol befand und
die von Wolfram Sievers geleitet wur-
de. Schon bald kam es zu Differenzen
zwischen der Kulturkommission und
Norbert Mumelter, dem damaligen
Leiter des Kulturdienstes der Arbeits-
gemeinschaft der Optanten für
Deutschland (ADO), dem von Sievers
vorgeworfen wurde, sich zu wenig
energisch für die großdeutschen Ge-
danken einzusetzen. Mumelter plan-
te nämlich eine umfassende Doku-
mentation der Südtiroler Kultur, der
Siedlungsstruktur, der Bräuche und
Lieder, sowie nicht zuletzt der Volks-
trachten. Sievers hielt in seiner Denk-
schrift „Grundsätze zu Aufnahme und
Erfassung der kulturellen Werte in
Südtirol“ erstmals auch den Gedanken
fest, dass die Kulturgüter als leben-
diges Gut in die neue Heimat der
Südtiroler Optanten zu überführen
seien, nachdem sie „wissenschaftlich
erforscht und in die bereits erfassten
kulturellen Güter des Großdeutschen
Reiches eingegliedert“ worden seien.
Dieser Vision der „Lebendigerhaltung“
folgte Gertrud Pesendorfer, die zur
Direktorin des Tiroler Volkskunstmu-
seums in Innsbruck bestellt wurde.
Damit hatte man eine äußerst quali-
fizierte, aber auch „politisch zuver-
lässige“ Volkskundlerin an die Spitze
der Trachtenpflege gestellt.
Bewegung zur Trachtenerneuerung
Das Tiroler Volkskunstmuseum war
unter der Leitung von Frau Dr. Gertrud
Pesendorfer zur Zentralinstitution in
Sachen Tracht für das gesamte Deut-
sche Reich geworden. Grundsatz ihrer
Arbeit war die Trachtenerneuerungs-
bewegung, die sich in einschlägigen
Publikationen mit bildlichen Wieder-
gaben erneuerter Trachten nieder-
schlug. Die für Tirol so typische
Kleinräumigkeit musste neuen Tal-
schaftstrachten weichen, während
die Aufnahmen einer eigenen Kom-
mission mit Südtiroler Beteiligten als
wertvolle Quellen der Trachtenfor-
schung im Archiv gebunkert wurden.
Der Begriff „lebendig“ wurde dabei
ganz im Sinne der vorherrschenden
Ideologie umgedeutet: er findet sich
in Verbindung mit Bezeichnungen
wie „organische Teile“ der Südtiroler
Kultur oder in Bezug auf die Tracht
sogar der „artgemäßen“, „völkischen“
Feierkultur.
In Folge des zeitlichen Druckes, dem
Pesendorfer mit ihren Mitarbeitern
ausgesetzt war, kam es bei einer
ganzen Reihe von lokalen Trachten
zu beträchtlichen typologischen Un-
schärfen. In den verkehrsoffenen
Gebieten, in denen die Tracht schon
frühzeitig verschwunden war, ließen
sich nicht genügend Belegstücke und
Bilddokumente auftreiben, um eine
lückenlose Dokumentation zu errei-
chen. Pesendorfer griff in diesen
Fällen oft auf Überlieferung aus Nach-
barräumen oder schlichtweg auf Er-
findungen zurück.
Die Pesendorfer Publikationen
In mehreren Publikationen stellte
Pesendorfer ab 1940 ihre Bestands-
aufnahmen vor, die reich mit Rekon-
struktionszeichnungen bebildert, doch
ohne jeglichen wissenschaftlichen
Apparat erschienen. So lässt sich
heute in vielen Fällen kaum mehr
feststellen, woher Pesendorfer ihre
Vorbilder bezog. In einigen Fällen
stützte sie sich wohl auf Trachtenfi-
gurinen in den Sammlungen histori-
scher Museen, etwa in Bozen, Inns-
bruck oder Nürnberg, doch war ihr
offensichtlich die Tatsache nicht be-
wusst, dass es sich auch dabei oft um
keineswegs verlässliche Ensembles
von Trachtenteilen handelte.
In diesen Jahren ging es Gertrud
Pesendorfer in erster Linie um die
Erfüllung der ihr von der Politik ge-
Options
trachten
SÜDTIROL -
Den wenigsten Personen in Südtirol dürfte bekannt sein, wie der oft gebrauchte
und in Südtirol weit verbreitete Begriff von einer „lebendigen Tracht“ entstanden ist und welche
ideologischen Wurzeln er hat.
Die kurze Hose des Villanderers erinnert in der Darstellung von Gertrud
Pesendorfer (1939) auffallend an die Beinkleider der Hitlerjugend.
Foto: Trachtenarchiv H. Rizzolli.
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Kunst & Kultur