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Politik
Geschätzte Leser,
manchmal habe ich doch glatt den Eindruck, ich
müsste bei meinen Briefen aus Rom lediglich das
Datum ändern und könnte den Rest gleich lassen,
denn die Themen ändern sich nur um Nuancen und
Facetten, das Grundmuster bleibt aber dasselbe ...
und das seit Monaten.
Also bleibt nach wie vor Berlusconi und dessen
‚Schicksal‘ im Zentrum des medialen Interesses,
im Minutentakt erreichen uns die Meldungen der
Presseagenturen mit Statements von Quagliarello,
Alfano, Cicchitto, Fitto, von Berlusconi selbst, der
Kongress des Pdl vom 16. November wird zum Such-
spiel, wer nimmt daran teil, wer wird fehlen, kommt
es tatsächlich zum Bruch, siegen die Falken oder
die Friedenstauben, kann noch vermittelt werden,
und was wird, wenn? Oder doch? Alfano versucht
jedenfalls verzweifelt, den Kongress (der eigens
vorgezogen worden ist, um nicht zum Abgesang für
Berlusconi zu werden) wieder zu verschieben, denn
ein Ausscheren aus Forza Italia könnte das Aus für
ihn und seine (wie viele?) Getreuen werden. Das
Ganze ähnelt, ‚der Reise nach Rom‘, einem beliebten
Kinderspiel, denn mittlerweile geht es doch einigen
offensichtlich nur mehr darum, sich ihre Position
zu sichern, was bei einer zu klaren Abgrenzung
von Berlusconi (noch) sehr schwierig sein dürfte.
Dazu das Dilemma um die Reform des Wahlgesetzes.
Die Verhandlungen zwischen den Parteien führen
zu keinem Ergebnis, einige der Akteure könnten
es sich nämlich sehr gut vorstellen, noch mit dem
Porzellum zu wählen, sollte es denn schon bald zu
vorgezogenen Wahlen kommen und für die Ände-
rungen gibt es keinen Konsens. Napolitano drängt,
die Parteien diskutieren und Letta unterbreitet das
‚Angebot‘, auch die Wahlreform mittels Gesetzes-
dekret, also einer Notverordnung, zu dekretieren,
so das Parlament dies wünschen und Napolitano
solches mit tragen würde.
Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen
lassen: der Gesetzgeber verzichtet auf seine ur-
eigene Kompetenz und Zuständigkeit und ersucht
die Regierung, an seiner Stelle die Legislative zu
mimen. Da maulen alle, dass das Parlament nur
mehr zur Ratifizierungsinstanz verkommt und dann
dieser Vorschlag. O tempora, o mores!
Und zeitgleich natürlich der Gärprozess im PD, die
Eroberungszüge von Renzi, die Bremsversuche des
Establishment‘s ... alles schon gehabt, alles schon
gesehen und gelesen.
Nur das Wetter scheint sich zu ändern, da die Tem-
peraturen nun doch herbstlich zu werden beginnen,
wobei der Herbst in Rom seine eigene Definition
kennt, wie auch alles andere ...
Somit herbstliche Grüße aus einer Stadt ohne große
Neuigkeiten
Manfred Schullian
Kammerabgeordneter
Geschrieben am
13. November 2013
SÜDTIROL
-
(ar) Damit die Wahl-
berichterstattung auch die Meinung
eines Experten beinhaltet, baten
wir den bekannten Branzoller Po-
litologen Günther Pallaver von der
Uni Innsbruck zum Gespräch. So
berichtete er, dass der Wahlausgang
keine positive Überraschung war.
Herr Pallaver, haben Sie mit die-
sem Wahlausgang gerechnet?
Das Wahlergebnis hat mich nicht
wirklich überrascht. Die Umfragen
einen Monat vor dem Urnengang
haben ja schon darauf hingewiesen,
was die meisten schon vermutet
haben: Die SVP wird die absolute
Mehrheit verlieren, und die Oppo-
sitionsparteien werden zulegen.
Überraschend waren eher das dritte
Mandat der Süd-Tiroler Freiheit und
der Verlust von zwei Mandaten der
italienischen Sprachgruppe.
Wie beurteilen Sie das Abschnei-
den der SVP-Kandidaten?
Interessant ist vor allem das interne
Abschneiden der SVP-Kandidaten.
Die noch amtierenden Landesräte,
die an den Wahlen teilgenommen
haben, sind von den Wählern ab-
gestraft worden. Theiner bildet als
Obmann der SVP eine Ausnahme.
De facto haben die Wähler der al-
ten Landesregierung unter Landes-
hauptmann Luis Durnwalder das
Misstrauen ausgesprochen. Prämiiert
wurden hingegen die SVP-Rebellen
Schuler und Noggler, die schon län-
ger den internen Dissens gepflegt
und dem Landeshauptmann auch
Paroli geboten haben.
Für welche Politik wird der neue
Landeshauptmann Arno Kompat-
scher stehen?
Wofür der neue Landeshauptmann
steht, ist im Wahlkampf schon
Politologe Pallaver:
Wahlausgang nicht überraschend
evident geworden. In erster Linie
wird sich der politische Stil än-
dern. Kompatscher wird verstärkt
kooperativ arbeiten und weniger
ausschließen. Auch nehme ich an,
dass die Entscheidungsprozesse
transparenter werden. Was die Po-
litikfelder betrifft, so kann man sich
auf den Gebieten der Energiewirt-
schaft, der Politik die Gemeinden
betreffend sowie auf dem Gebiet
der Wirtschaftspolitik Neuerungen
erwarten, aber auch, was die Politik
gegenüber den anderen Sprachgrup-
pen im Lande betrifft.
Weshalb tun sich die Italiener so
schwer, geschlossen zu wählen?
Die Zeiten, über politische Grenzen
hinweg als ethnischer Block ge-
schlossen zu den Wahlen zu schrei-
ten, ist definitiv vorbei, sowohl für
die deutsche Sprachgruppe und
umso mehr für die italienische,
die seit jeher immer mit einer grö-
ßeren Anzahl von Parteien an den
Wahlen teilgenommen hat. Partei-
en- und Politikverdrossenheit auf
gesamtstaatlicher Ebene, weniger
die Fragmentierung, sondern die
völlige Unübersichtlichkeit über
das politische Angebot wie die
Frustration, im Lande eh nichts zu
melden zu haben, haben viele dazu
verleitet, nicht an den Wahlen teil-
zunehmen. Je weniger Italiener zur
Wahl schreiten, desto mehr Mandate
wandern von der italienischen zur
deutschen Sprachgruppe.
Die Politik ist keine
Wissenschaft
,
wie viele der Herren Professoren sich
einbilden, sondern eine
Kunst
.
Otto von Bismark, 1884
Brief aus Rom